Technostress vermeiden

Welche Auswirkungen hat die digitale Transformation auf die Gesundheit von MitarbeiterInnen in Unternehmen? Ein Gespräch mit Dr. Daniel Thiemann, promovierter Diplom-Psychologe
Führungskräfte, Sachbearbeiter// 30. April 2019

Ständige Erreichbarkeit, Arbeitsverdichtung, zunehmende Ängste und Unsicherheiten, Reizüberflutung – macht die Digitalisierung krank? Wie können Unternehmen und Führungskräfte Technostress bei MitarbeiterInnen vermeiden?

Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt DigiTraIn 4.0, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, untersucht u.a. die Auswirkungen neuer Technologien auf die psychische Gesundheit und das Stresslevel von MitarbeiterInnen. Vier Bereiche wurden zu diesem Themenkomplex herausgearbeitet.

Discover Digital hat dazu den promovierten Diplom-Psychologen Daniel Thiemann befragt, der als Post-Doc im Projekt DigiTraIn und Dozent an der Professur für Organisation und Leadership der ESB Business School, Hochschule Reutlingen arbeitet.

 

Herr Thiemann, der Faktor Mensch spielt in Ihren Forschungen eine zentrale Rolle. Worum genau geht es dabei?

Wir betrachten konkret, welche Implikationen die digitale Transformation für die tägliche Arbeit von MitarbeiterInnen und ihre Zusammenarbeit hat. Dabei stehen sowohl individuell verortbare Aspekte, wie z.B. Kompetenzentwicklung, Arbeitsrollen und Gesundheit im Vordergrund als auch interaktionale Themen wie Zusammenarbeit und Führung.
Parallel dazu betrachten wir Themen, wie beispielsweise die digitale Infrastruktur, die Organisationskultur oder die Ausgestaltung von Strukturen und Prozessen. Entscheidend dabei ist, die Wechselwirkungen zwischen den Themen im Blick zu haben.
Um einen differenzierten Einblick darüber zu bekommen, welche konkreten Auswirkungen die digitale Transformation auf MitarbeiterInnen hat, haben wir im Projekt DigiTraIn 4.0 zunächst systematisch die wissenschaftliche Fachliteratur gesichtet. In Gesprächen mit Expertinnen und Experten sowie in Fokusgruppen mit Praktikern haben wir daraufhin einzelne Aspekte diskutiert. Risiken, die sich aus der Digitalisierung ergeben, haben wir in Umfragen untersucht. Zudem begleite ich mit meinen Kollegen verschiedene Digitalisierungsprojekte in Unternehmen.

 

Und welche Effekte zeigen sich im Bereich psychische Gesundheit?

Zunächst einmal ist das Thema psychische Gesundheit in der Arbeitswelt keines, welches erst durch die Digitalisierung aufgekommen ist. Themen wie beispielsweise Stress, Resilienz, Überlastung und Coping sind natürlich nicht gänzlich neu. Im Rahmen der Digitalisierung zeigen sich jedoch bestimmte Effekte, die im Speziellen auf die Digitalisierung zurückzuführen sind.

Im Wesentlichen gibt es vier Hauptbereiche, in denen relevante Themen für die psychische Gesundheit durch die Digitalisierung zu verorten sind.
Ein Bereich betrifft mit der Digitalisierung einhergehende Ängste und Unsicherheiten. So fürchten MitarbeiterInnen sich teilweise vor dem Wegfall von Arbeitsplätzen durch die Digitalisierung oder dass sie mit den immer schneller stattfindenden Veränderungen nicht Schritt halten können.

Zweitens spielt der Aspekt Technostress eine wesentliche Rolle. Damit ist gemeint, dass MitarbeiterInnen durch den Umgang mit Technologien Stress erleben, beispielsweise durch Funktionsstörungen, Überwachungsmechanismen oder Informationsüberlastung.

Ein drittes, zunehmend wichtigeres Thema, ist die ständige Erreichbarkeit über digitale Kanäle, welche mit einem erhöhten Stresserleben einhergehen kann.

Viertens: Die Digitalisierung kann zu einer Arbeitsverdichtung führen, weil eine Vielzahl von Informationen immer schneller und von überall auf MitarbeiterInnen einwirken können.

 

Wie aber können Unternehmen und Führungskräfte möglichen Ängsten und Unsicherheiten entgegenwirken?

Um MitarbeiterInnen mit der Digitalisierung einhergehende Ängste und Unsicherheiten zu nehmen, ist es zum einen wichtig, transparent mit Veränderungsmaßnahmen umzugehen. Dadurch wird vermieden, dass Unsicherheiten durch eine unklare Informationslage entstehen. Zum anderen ist es wichtig, eine klare Vision der digitalen Arbeitswelt im Unternehmen zu entwickeln und zu kommunizieren, die die aktuellen MitarbeiterInnen mit einbezieht.

Dies kann Ängste darüber nehmen, dass digitale Transformationsvorhaben im Unternehmen einen Jobverlust bedeuten könnten. Auch wenn dies der Fall sein sollte, ist es wichtig, damit als Unternehmen offen umzugehen. Zudem müssen Unternehmen darauf achten, ihre MitarbeiterInnen für geplante Entwicklungsschritte ausreichend zu qualifizieren. Das nimmt Ängste darüber, ob man mit den Veränderungen Schritt halten kann.

 

Als zweiten Bereich sprachen Sie von Technostress. Ist die Hilflosigkeit, die dabei erlebt wird, nicht auch eine Folge fehlender Qualifizierung bzw. Weiterbildung?

Ich würde nicht generell von Hilflosigkeit sprechen. Technostress betrifft nicht alle MitarbeiterInnen und nicht jeder ist dem hilflos ausgeliefert. Aber ja, Qualifizierung und Weiterbildung sind hier sehr wichtige Themen. Wenn MitarbeiterInnen ausreichend befähigt werden, mit im Unternehmen eingesetzten neuen Technologien umzugehen, erleben sie in der Folge weniger Stress beim Umgang damit.
Technostress kann aber nicht nur Folge fehlender Fähigkeiten seitens der Mitarbeiter sein. Tools oder Software, die eine schlechte Usability aufweisen oder nicht optimal in Arbeits- und Produktionsabläufe integriert sind, führen in der Folge zu Stresserleben. Die Qualität und Responsivität des IT-Supports sind ebenfalls wichtige Parameter. Wenn wir uns Transformationsvorhaben in Unternehmen anschauen, merken wir, dass dort häufig der ganzheitliche Blick fehlt.

 

Bezugnehmend auf den richtigen Umgang mit Technologien, sprachen Sie als dritten Bereich das Thema ständige Erreichbarkeit an. Müssen nach Feierabend die Handys jetzt ausbleiben? Bei Volkswagen hat der Betriebsrat Funkstille nach 18 Uhr durchgesetzt. Sind solche Regeln zielführend?

Das kann mitunter schon zielführend sein. Das hindert MitarbeiterInnen aber nicht vollständig daran, sich außerhalb der Arbeitszeiten mit Arbeitsinhalten zu beschäftigen, wenn Sie es denn wollen. Ich persönlich halte – anstelle von technologischen Reglementierungen – gemeinsam erarbeitete Regeln in der Zusammenarbeit für sinnvoll. Das heißt beispielsweise, dass Führungskräfte gezielt darauf achten müssen, die Grenzen und Ruhezeiten von Mitarbeitenden zu wahren. Das Kontaktieren über digitale Kanäle und das Einfordern von Arbeitsleistungen und Reaktionen außerhalb der Arbeitszeiten sollte generell vermieden werden und wenn, dann nur in beidseitigem Einverständnis für definierte Situationen erfolgen. Generell ist gleichzeitig die Eigenverantwortung von MitarbeiterInnen gefordert, Ruhezeiten einzuhalten.

 

Thema Arbeitsverdichtung: Sollte die Technik nicht eigentlich dem Menschen dienen, also eher zu einer Entlastung führen? Häufig lässt sich ein umgekehrter Effekt beobachten. Was läuft da falsch?

Prinzipiell ist natürlich der Wunschgedanke, dass Technologien uns entlasten, beispielsweise indem einfache Tätigkeiten automatisiert werden, Programme uns bei der Informationsaufbereitung unterstützen, Kommunikationswege und Kollaborationen durch Tools erleichtert und angereichert werden. Das führt jedoch dazu, dass Informationen immer schneller, in größerer Menge und über eine wachsende Anzahl von Kanälen verfügbar sind und auf MitarbeiterInnen einwirken. Das kann MitarbeiterInnen stressen. Hier ist es notwendig, den passenden Umgang mit digitalen Technologien zu erlernen. Das ist ein Lernprozess, der aktiv von Unternehmen mitgedacht werden sollte.

 

Abschließend: Durch fehlende Aktenstapel auf den Schreibtischen ist die Arbeit zu einem großen Teil unsichtbar geworden, existiert nur noch virtuell. Müssen wir erst noch lernen, mit digitalen Technologien umzugehen, obwohl PCs schon seit nahezu 40 Jahren Standard sind und seit mehr als 20 Jahren E-Mails verschickt werden?

Zwar gibt es schon lange PCs und Emails, die Geschwindigkeit technologischer Fortschritte und Veränderungen sowie die Durchdringung der Digitalisierung in Arbeitsabläufe, -organisation und -inhalte hat aber eine neue Qualität gewonnen. Digitale Technologien im Alltag anzuwenden, ist eine Sache. Aber Organisationen, die über viele Jahre auf bestimmte Art und Weise ihre Arbeitsabläufe, -prozesse und Zusammenarbeit geregelt haben, und sich nun im Zuge neuer Entwicklungen digitalisieren wollen, stehen vor einer komplexen, vielschichtigen Herausforderung. Dabei stellen sich für Unternehmen zahlreiche Fragen, z.B. wo es überhaupt für sie Sinn macht zu digitalisieren, wie sich einzelne Bereiche durch die Digitalisierung verändern, wie sie miteinander zusammenhängen, wo sie bezüglich dieser Themen verortet sind und wie man erfolgreich digitale Transformationsvorhaben umsetzen kann.
Diesen Fragen widmen wir uns unter anderem im Projekt DigiTraIn 4.0, in dem wir konkret Instrumente für Unternehmen entwickeln, evaluieren und bei Unternehmenspartnern anwenden, um eine digitale Transformation erfolgreich zu gestalten.

Vielen Dank, Herr Thiemann.

 

Zur Person: Dr. Daniel Thiemann ist promovierter Dipl.-Psychologe und arbeitet seit Juni 2017 an der der ESB Business School (Hochschule Reutlingen) als Post-Doc in verschiedenen Projekten (u.a. DigiTraIn 4.0) sowie als Dozent an der Professur für Organisation und Leadership. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind u.a. die Forschung zu Auswirkungen der Digitalisierung auf Beschäftigte, Führungskräfte und das Change-Management, die Entwicklung von Beratungskonzepten zur digitalen Transformation sowie die Konzeption und Durchführung von Workshops für Unternehmen.

Zum Projekt: Das Projektvorhaben DigiTraIn 4.0 entwickelt, erprobt und evaluiert auf Basis eines systematischen und wissenschaftlich fundierten Vorgehens Konzepte und zukunftsfähige Instrumente, um für Unternehmen die Transformation in die digitale Arbeitswelt erfolgreich zu gestalten. Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt DigiTraIn 4.0 wird im Rahmen des Programms Zukunft der Arbeit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds der Europäischen Union gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut.

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