Fragt man nach Digitalisierung ist schnell von neuen Apps die Rede, von digitalen Versicherungsprodukten und von Customer Journeys (→ Glossar). Ein großer Bereich aber bleibt häufig im Dunkeln: Digitalisierungsprojekte im Back-Office.
Die Anforderungen dort sind komplex, die Umsetzungen aufwändig, die Lösungen hocheffizient. In der Schadenbearbeitung zum Beispiel. Das ist zugleich der „moment of truth“ für jeden Versicherer und für jeden Kunden. Dort gilt die Devise: Je schneller, desto besser.
Volldigitale Versicherer, wie zum Beispiel das amerikanische Unternehmen Lemonade (→ Gemeinnützig oder profitorientiert?), das jetzt auch auf den europäischen und deutschen Markt drängt, setzen die Benchmark: Nach eigenen Angaben benötigt Chatbot Jim, die Lemonade KI, mit ihren automatisierten Prozessen drei Sekunden für ein vollständiges Claim Management in Sach-Schaden (Fahrraddiebstahl): Abgleich eines Anspruchs mit der Police, Durchlauf von 18 Anti-Betrugs Algorithmen, Zahlungsauftrag an die Bank senden und dem Kunden Rückmeldung geben. Das alles geschieht innerhalb von drei Sekunden. Vorgang erledigt. Ohne menschliches Zutun.
Voraussetzung dafür ist eine entsprechende IT-Infrastruktur, die es in traditionellen Versicherungsunternehmen so nicht gibt. Deren tradierte Systeme, die Legacy IT, sind optimiert für herkömmliche Prozesse. Umrüstungen sind mit immensen Investitionen verbunden, radikale Umbrüche sind im laufenden Betrieb nicht möglich. Alt und neu müssen parallel laufen, und nicht nur das: auch die Daten müssen untereinander ausgetauscht werden, die Systeme kompatibel sein.
In der Übergangszeit, in der wir uns gerade befinden, setzt die ERGO-Group wie andere Unternehmen auch, auf Robotics, um diese Lücke zu füllen.
Robotics oder RPA (robotics process automation) nutzt Software-Roboter, die schnell und günstig mit nur wenigen Eingriffen in die Legacy IT integriert werden können. Deren Aufgabe ist ebenso einfach wie effizient: Software-Roboter übernehmen wiederkehrende, manuelle Tätigkeiten die nach dem definierbaren Schema „Wenn-Dann-Sonst“ funktionieren, zum Beispiel: Wenn Schadenmeldung positiv geprüft, dann Zahlung anweisen, sonst manuell weiterbearbeiten.
Das klingt einfach. Ist das so?
Fragen an Fabian Stolz, Leiter des Robotics Competence Center der ERGO Digital Ventures AG in Düsseldorf.
Fabian Stolz: Ja, wenn drei Bedingungen erfüllt sind, ist es tatsächlich einfach. Erstens: Die Aufgabe lässt sich schematisch beschreiben. Zweitens: Der Ablauf ist aufgrund der vorhandenen Informationen eindeutig. Und drittens: Alle benötigten Daten liegen digital und strukturiert vor.
Im Unterschied zur Prozessautomatisierung durch Weiterentwicklung der bestehenden IT-Systeme oder durch Workflow-Tools ahmt ein Roboter die manuelle Tätigkeit des Sachbearbeiters eins zu eins nach. Das heißt, er bedient die gleichen Benutzeroberflächen wie der Mensch auch. Dafür sind keine Eingriffe in diese Systeme nötig. So können wir Aufgaben schnell und kostengünstig automatisieren, die den Einsatz mehrerer IT-Systeme auf unterschiedlichen technischen Plattformen erfordern. Bei klassischen IT-Projekten verursachen solche Aufgaben oft hohe Kosten und Zeitaufwand.
Wie identifizieren Sie die für Robotics in Frage kommenden Prozesse? Und welche Unternehmensbereiche kommen dafür grundsätzlich in Frage?
Grundsätzlich kommen alle Unternehmensbereiche in Frage. Unser Fokus liegt auf dem Kunden- und Vertriebsservice. Dort werden die größten Vorgangsvolumina bearbeitet. Jede Prozessverbesserung wirkt sich direkt positiv auf unsere Kunden aus.
Geeignete Prozesse identifizieren wir in enger Zusammenarbeit mit den Fachbereichen. Deswegen ist Awareness, also ein Bewusstsein, Sensibilität schaffen, eine wichtige Aufgabe. Wir sorgen dafür, dass möglichst viele unserer KollegInnen verstehen, was ein Bot kann. Das versetzt sie in die Lage, selbst einschätzen zu können, wo ihnen diese Technologie helfen kann. So identifizierte Prozesse schauen sich unsere Prozessanalysten gemeinsam mit den Fachexperten an. Innerhalb einer Stunde können wir dann einschätzen, ob und mit welchem Aufwand der Prozess mit Robotics umsetzbar ist.
Um einzelne Projekte konkret anzugehen, benötigen Sie interdisziplinäre Teams, also Teams mit Vertretern des jeweiligen Fachbereichs und aus der IT. Diese benutzen aber selten dasselbe Vokabular. Wie gelingt da die Verständigung?
Die enge und direkte Zusammenarbeit ist absolut erfolgsentscheidend: Für jeden Prozess bilden wir ein Team aus zwei Fachexperten, einer Prozessanalystin und einem oder zwei Entwicklern. Innerhalb von zirka zehn Wochen beschreiben, programmieren, testen sie gemeinsam den Roboter und bringen ihn in Produktion. Das ist jedes Mal – vor allem aber bei der erstmaligen Zusammenarbeit mit einem Fachbereich – ein Lernprozess für beide Seiten. Dabei spielen die Prozessanalysten eine zentrale Rolle: Sie sind gleichzeitig Projektmanager, Coaches für die Fachexperten und Regulative durch fortwährendes Hinterfragen der fachlichen Abläufe.
Das Feedback aus der Zusammenarbeit und aus den Retrospektiven, zu denen wir typischerweise drei Monate nach dem Go-Live eines Bots zusammenkommen, ist ausgesprochen positiv. Unsere Fachkollegen schätzen den direkten Dialog und die Tatsache, dass sie jederzeit die volle Kontrolle über das Ergebnis haben. Auf der anderen Seite freuen sich unsere Entwickler natürlich darüber, dass der Nutzen ihrer Arbeit unmittelbar sichtbar wird.
Die Prozessautomatisierung entlastet einerseits von Routineaufgaben ist aber andererseits auch mit Vorbehalten und Ängsten verbunden. Gibt es Vorgaben, Strategien, Richtlinien für Führungskräfte aber auch für MitarbeiterInnen, wie die entstehenden Freiräume gefüllt werden (können)?
Typische Vorbehalte reichen von Ich habe keine Ahnung von IT über Das funktioniert nie bis Damit schaffe ich doch meinen eigenen Arbeitsplatz ab. Das nehmen wir ernst und wir sprechen die mit Robotics verbundenen Ängste offen an. Wir unterstützen unsere Fachkollegen mit Weiterbildungen und Coachings und vor allem überzeugen wir in der direkten Zusammenarbeit mit den erzielten Ergebnissen.
Vorgaben für die Führungskräfte sind seitens Robotics Competence Center weder angebracht noch nötig. Ganz im Gegenteil, ich erlebe, dass sich unsere Mitarbeiter sehr bewusst mit den Auswirkungen auf Kunden und Mitarbeiter auseinandersetzen und die Entscheidung für die Automatisierung eines bestimmten Prozesses mit einer bestimmten Technologie – wie zum Beispiel Robotics – sehr überlegt treffen. Bisher hatten Führungskräfte und Mitarbeiter immer ganz klare Vorstellungen davon, wie sie die gewonnenen Freiräume nutzen wollen: Entweder getrieben von Notwendigkeiten, um unserem Anspruch an erstklassigen Kundenservice noch besser gerecht zu werden oder durch kreative Ideen, die effektiv zu einem besseren Serviceerlebnis für unsere Kunden und Vertriebspartner führen.
Das Robotics Competence Center der ERGO arbeitet seit 2018. Ist Automatisierung in einem Versicherungsunternehmen ein absehbar endlicher Prozess? Falls ja, wie weit sind Sie?
Automatisierung allgemein wird langfristig ein Thema bleiben. Wenn Sie neue Produkte oder Services entwickeln und nach einem erfolgreichen Test skalieren wollen, entstehen daraus neue Ansatzpunkte zur Prozessautomatisierung. Konkret auf Robotics bezogen, hängt es davon ab, welche Kriterien man zur Auswahl der Prozesse heranzieht. Wir fokussieren uns zunächst auf volumenstarke Prozesse mit einer bestimmten Mindestgröße. Davon haben wir jetzt ungefähr ein Drittel umgesetzt. Sollten wir mit unserem Kriterienkatalog tatsächlich an diese Grenze stoßen, kann ich mir gut vorstellen, den Fokus zu verlagern – zum Beispiel auf Prozesse mit zeitlich begrenzten Belastungsspitzen oder besonderen Qualitätsanforderungen.
Die Automatisierung wird nicht um ihrer selbst Willen betrieben, vielmehr ist der Kostendruck ein großer Treiber. Können Sie dazu einen groben Einblick gewähren? Wie effizient ist die Automatisierung bei der ERGO?
In den westeuropäischen Ländern spielt die Kostenreduktion durch Effizienzgewinne eine große Rolle beim Einsatz von Robotics. In Deutschland zielen wir darauf ab, die Entwicklungskosten eines Bots spätestens innerhalb eines Jahres, typischerweise aber schon nach sechs bis neun Monaten, wieder einzuspielen. Unsere Kollegen zum Beispiel in Indien haben diesbezüglich andere Voraussetzungen und legen mehr Wert darauf, Prozesse durch den Einsatz von Automatisierung primär zu beschleunigen oder qualitativ zu verbessern.
Wir haben eingangs das Beispiel Lemonade erwähnt. Die Schnelligkeit dort resultiert nicht nur aus automatisierten Prozessen sondern auch aus dem Einsatz entsprechender KI, die (automatisierte) Prozesse steuert. Ist das der logische nächste Schritt? Arbeiten Sie bereits daran?
Ja und ja. Bots benötigen strukturierte, digitale Daten und schematische Abläufe. KI bietet die Möglichkeit, auch unstrukturierte Daten, also Texte, Sprache, Bilder und Videos zu erfassen. Das beginnt bei vermeintlich einfachen Aufgaben, wie dem Auslesen einer Vertragsnummer aus einer E-Mail, kann aber auch die Abschätzung der Schadenhöhe anhand eines Gutachtens oder der Heilungschancen anhand von medizinischen Daten umfassen.
Die Kunst besteht darin, Anwendungsfälle für KI zu erkennen, passende KI-Modelle zu entwickeln und diese in die Fachprozesse einzubinden. Beim letztgenannten Punkt schließt sich der Kreis: Denn hier kann unter Umständen ein Bot helfen, KI-Komponenten und bestehende Systemlandschaft miteinander zu verknüpfen. Ein erstes gelungenes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen KI und Bot konnten wir für die Leistungsprüfung im Bereich Krankentagegeld bereits umsetzen und ich freue mich auf weitere.
Vielen Dank für das Gespräch!