Lebenslang. Echt jetzt?

Lebenslanges Lernen klingt nach lebenslänglich und damit keineswegs motivierend. Müssen BildungsexpertInnen und EntscheiderInnen das Konzept besser verkaufen? Ein ExpertInnengespräch…

Vieles ändert sich. Nichts bleibt wie es ist. Die Digitalisierung gibt ein hohes Tempo vor, den MitarbeiterInnen wird einiges abverlangt. Die erforderlichen Fertigkeiten können zwar gelernt werden. Zuvor muss aber das Lernen neu gelernt werden, denn auch das hat sich verändert: Ein Lehrbuch von vorne bis hinten durchzuarbeiten war gestern. Heute wird vorzugsweise on demand gelernt und in kleinen Nuggets.

Verliert man dabei nicht schnell den Überblick, seinen persönlichen Lern- und Entwicklungspfad aus den Augen? Wer entscheidet, wohin die Reise geht und wer drückt zuvor auf den Startknopf? Welchen Stellenwert hat Lernen heute in Unternehmen? Und warum hört Lernen niemals auf?

Discover Digital hat eine Expertin befragt: Julia Schemmel leitet die E-Learning Entwicklung bei der LVM Versicherung in Münster.

Frau Schemmel, MitarbeiterInnen sollen mit der Digitalisierung mitwachsen, lebenslanges Lernen soll die Beschäftigungsfähigkeit sichern. Welchen Stellenwert hat lebenslanges Lernen in Ihrem Unternehmen?

Schemmel: Meines Erachtens kann es sich heutzutage kein Unternehmen mehr leisten, dem dauerhaften Lernen den Rücken zu kehren. Auch die LVM Versicherung unterstützt den Mehrwert von lebenslangem Lernen. Dies fängt bei unseren Auszubildenden an und hört bei Schulungsangeboten für Mitarbeitende, welche kurz vor der Verrentung stehen, auf.

Die Entwicklung führt weg von Präsenzveranstaltungen hin zu Online-Formaten, zu Online-Seminaren und Lernvideos. Welche Rolle spielen digitale Lernangebote in Ihrem Unternehmen?

Schemmel: E-Learning hat einen hohen Stellenwert in unserem Unternehmen. Bei der LVM setzen wir Web Based Trainings (→ Glossar/Anm.d.Red.), Webinare und Lernvideos bereits sehr umfangreich ein und erhalten ein super Feedback, insbesondere von unseren Agenturen, zu diesem Angebot.
Mittlerweile besteht sogar eine Erwartungshaltung, dass zum Beispiel Neuerungen von Produkten mit digitalen Schulungsmaßnahmen vermittelt werden. Die Nachfrage ist also bereits hoch und wächst weiterhin. Dies freut mein Team und mich natürlich ungemein.

Schnellere Verfügbarkeit, geringere Teilnehmerkosten sowie mehr und gezieltere Maßnahmen sprechen für digitale, bedarfsgerechte Lernangebote. Aber wie steht es dabei um die Nachhaltigkeit, wie lässt sich ein Lernerfolg messen? Wenn es um fachliche Themen geht, sollte dies relativ einfach sein…schwieriger wird’s vermutlich bei Themen aus dem Bereich soziale Kompetenz?

Schemmel: Den Lernerfolg bei sozialen Themen messbar darzustellen, ist meines Erachtens bei jeder Lernform schwierig – nicht nur bei E-Learning. Dennoch glaube ich, dass ein höherer Lernerfolg gesichert werden kann, indem man zum Beispiel an die Lernerfolgskontrollen innerhalb der Maßnahme etwas kreativer heran geht und Gamification-Aspekte (→ Glossar/Anm.d.Red.) berücksichtigt: Anstatt der üblichen Multiple-Choice-Aufgabe, wäre zum Beispiel eine Realfilmerstellung mit unterschiedlichen Antwortszenarien denkbar. Daraus ließe sich dann innerhalb der Weiterbildung anknüpfen und eine weitere Story erstellen. Mit einem guten Learning Management System, LMS, kann dann individuell ausgewertet werden, Wissenslücken dadurch sichtbar gemacht und weitere Lernmaßnahmen angeboten werden.

Studien haben gezeigt, dass MitarbeiterInnen sich selbst in der Verantwortung sehen sich weiterzubilden, dazuzulernen. Andererseits haben diese keine Hoheit über das Lernbudget. Inwieweit ist ein selbstbestimmtes Lernbudget sinnvoll, das für den individuellen Lernbedarf im Einklang mit dem unternehmensweiten Bedarf in Anspruch genommen werden kann? Anders gefragt: Wie ist das Lernen bei Ihnen organisiert? Wer gibt den Impuls zum Lernen und entscheidet darüber?

Schemmel: Derzeit gibt es keine Form von Lernbudgets in unserem Unternehmen. Ich begrüße dies, da es die Eigenverantwortung des Mitarbeiters stärkt. Wir verstehen Lernen als aktiven Prozess, den jeder für sich gestalten kann und der aktiv vom Unternehmen gefördert wird. Die drei Bausteine zum Kompetenzaufbau: Wissen, Können und Haltung sind fest in unserer Lernkultur verankert und werden auf unterschiedlichste Weise gefördert.
Daher sollte Bildung nicht am Ende eines vor Monaten geplanten Budgetrahmens aufhören – auch wenn ich verstehen kann, dass dies eine gewisse Planungssicherheit bietet.

Tutorials, Online-Seminare, kollegialer Austausch (siehe Beitrag → Lautes Lernen. Geballtes Wissen) – das sind Formate, die mitunter nur einige Minuten, kaum eine Stunde in Anspruch nehmen. Wie ist bei Ihnen Lernzeit definiert und geregelt? Wie erfassen Sie die Lernzeit, gerade auch bei diesen schnellen und kurzen Formaten?

Schemmel: Wir richten uns nach den Anrechnungsregeln von gut beraten. Hier kann eine Weiterbildungszeit ab 15 Minuten angerechnet werden. Kleinere Nuggets können wir natürlich dennoch anbieten, indem wir diese innerhalb einer Lernreihe anbieten von zum Beispiel drei Fünf-Minuten-Nuggets.

Viele MitarbeiterInnen sehen sich in einem Dilemma zwischen Wollen und Können. Das Arbeitspensum lässt kaum Spielraum, Lernen würde zulasten der Freizeit gehen, ist eine oft gehörte Befürchtung. Inwieweit können digitale Lernangebote das Dilemma auflösen?

Schemmel: Hier spielen die eben schon genannten Lernnuggets eine wichtige Rolle. Diese sind bei uns sehr beliebt und können eben auch auf die Schnelle, wie zum Beispiel vor dem nächsten Kundentermin, konsumiert werden. Der Trend zu großen Web Based Trainings mit einer Laufzeit von einer Stunde und mehr ist bereits seit längerem rückläufig.
Des Weiteren ist es wichtig, direkt im Point of Need auf digitale Lernmaßnahmen zugreifen zu können: Dies bedeutet, dass eine zentrale Anlaufstelle mit guter Such- und Filterfunktion gegeben sein sollte.

Gibt es bei Ihnen Entwicklungs- bzw. Kompetenzgespräche, die einen Wissens- und Lernbedarf erkennbar werden lassen und im Idealfall auch einen Lernpfad aufzeigen? Und auch hier natürlich die Frage: Inwieweit können digitale Tools, etwa ein Lernmanagementsystem dabei unterstützen?

Schemmel: Bei der LVM gibt es regelmäßige Gespräche zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden, in denen auch über die weitere Entwicklung gesprochen wird. Hier steht für den Mitarbeitenden ein entsprechendes Weiterbildungsangebot in unserem LMS zur Verfügung, welches die Führungskraft empfehlen kann oder für welches sich der Mitarbeitende selbstständig einbuchen kann.

Letzte Frage: Inwieweit basiert die zurückhaltende Bereitschaft zur ständigen Aufgeschlossenheit, Weiterentwicklung und Wissbegierigkeit möglicherweise darauf, dass die Begriffe lebenslang und Lernen nicht unbedingt positiv besetzt sind? Müssen BildungsexpertInnen und EntscheiderInnen das Konzept anders verkaufen?

Schemmel: In einer Wissensgesellschaft wird verstärkt gefordert, sich selbstständig weiterzuentwickeln. Hier ist die schwierigste Herausforderung aus meiner Sicht, dass sich die Verantwortung für das Lernen verschiebt.
Meiner Meinung nach ist das lebenslange Lernen im Privatleben allerdings längst angekommen und akzeptiert. Dies zeigen die Erfolge von Lernplattformen oder entsprechenden Youtube-Kanälen. Es muss jedoch daran gearbeitet werden, dass diese Bereitschaft eben auch im Beruf vorhanden ist und nicht mit dem Betreten des Bürogebäudes endet.
Lernangebote zur Verfügung zu stellen ist für uns als Bildungsverantwortliche im Unternehmen weniger kritisch.
Die Verantwortung zu tragen, meinen eigenen Lernprozess aktiv zu gestalten und passende Lernangebote zu konsumieren, ist hingegen eine größere Herausforderung und Aufgabe.

Vielen Dank, Frau Schemmel!

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